Familien von Kindern mit spinaler Muskelatrophie können zu Experten in der Betreuung ihrer Kinder werden. Sie lernen den kompetenten Umgang mit einer Vielzahl medizinischer Geräte, bauen ihr Zuhause um und passen Alltagsgegenstände an. Die Angehörigen und Familienmitglieder unterstützen das Kind in sämtlichen Belangen.

Wer könnte bessere Einblicke in die Bedürfnisse von Personen mit spinaler Muskelatrophie geben als die Betreuenden selbst? Nachfolgend finden Sie praktische Tipps und Vorschläge für Alltagslösungen aus dem Erfahrungsschatz von Eltern und Angehörigen von Menschen mit spinaler Muskelatrophie.

Die Informationen in diesem Abschnitt basieren auf Meinungen und Erfahrungen, die von Eltern und Angehörigen von Menschen mit spinaler Muskelatrophie zusammengefasst wurden. Sie sind nicht als Alternative zum Rat von medizinischem Fachpersonal gedacht.

Kleine Erleichterungen für den Alltag

„Wachsmalstifte und Buntstifte sind okay, aber bei Filzstiften kann sie manchmal den Deckel nicht abnehmen. Also bin ich alle Marken durchgegangen, bis ich Filzstifte gefunden habe, bei denen der Deckel sehr leicht abgeht.“

„Wir haben immer einen Becher und eine kleine Schüssel im Badezimmer stehen. So kann sich unsere Tochter ihre Zähne im Sitzen putzen und wir spülen einfach die Schüssel aus. Das schont unseren Rücken, weil wir sie nicht ans Waschbecken hochheben müssen, und für sie ist es sicherer.“

„Viel dehnen, strecken und tragen. All die kleinen Dinge, die man im Alltag so tut. Unser Ziel ist es, sie auf die Zeit vorzubereiten, wenn sie einmal auf sich allein gestellt ist. Sie räumt zum Beispiel ihre Schüssel vom Tisch ab. Für sie ist das sehr anstrengend, aber das ist Therapie. Hochheben, halten und tragen. All diese kleinen Sachen.“

„Selbstgemachtes Eis am Stiel ist lecker und man kann es mit gesunden Zutaten zubereiten. Kinder können davon abbeißen oder daran lutschen, je nachdem, was ihnen lieber ist. Wir füllen pürierte Erdbeeren, Orangenstücke, Eis und Wasser in gekaufte Formen für Eis am Stiel. Ein unkomplizierter, gesunder Snack!“

„Smoothies sind unsere besten Freunde! Wir mischen alle möglichen Nährstoffe mit hinein, auch Nahrungsergänzungsmittel. Man kann sie leicht trinken und sie sind nahrhaft.“

Hilfsmittel im Alltag

Mit Hilfsmitteln können maximale Unabhängigkeit und eine optimale Betreuung erreicht werden.

Damit Sie einen Eindruck davon erhalten, was es alles gibt, sehen Sie sich die nachfolgende Liste von Hilfsmitteln an. Bitte beachten Sie, dass diese Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Halten Sie Rücksprache mit Ihrem Betreuerteam, um herauszufinden, was für Sie oder Ihr Kind hilfreich sein könnte.

Rehabuggy

Ein Rehabuggy ist eine leichtere und handlichere Alternative zu einem Rollstuhl. Außerdem kann er einfacher in ein Fahrzeug und wieder heraus geladen werden. Er kann so aufgerüstet werden, dass er eine bequeme Position und Haltung des Kindes unterstützt. Buggies werden oft so lange benutzt, bis ein Kind groß genug für einen Rollstuhl ist. Wenden Sie sich an Ihren Versicherungsträger, um herauszufinden, ob ein Rehabuggy in Ihrem Versicherungsschutz enthalten ist.

Hustenassistent

Ein Hustenassistent hilft dabei, einen ergiebigeren Husten zu unterstützen, indem beim Einatmen die Lunge sukzessive mit mehr Luft versorgt wird und der Strom beim Ausatmen schnell umgekehrt wird. So können Sekrete einfacher abgeführt und dann mit einer Absaugmaschine aus dem Mund entfernt werden.

Pulsoximeter

Ein Pulsoximeter misst den Sauerstoffgehalt im Blut. Dafür wird ein kleiner Clip oder ein Tape mit einem Sensor an einem Finger oder Zeh angebracht. Menschen mit spinaler Muskelatrophie können, vor allem beim Schlafen, zusätzliche Unterstützung beim Atmen benötigen, falls ihr Sauerstoffgehalt zu niedrig wird.

Rollstuhl

Es gibt viele unterschiedliche Arten von Rollstühlen, sowohl manuelle als auch elektrische. Manuelle Rollstühle können selbst gesteuert oder von einer betreuenden Person geschoben werden. Elektrorollstühle werden elektronisch gesteuert, normalerweise mit einem Steuerknüppel. Sie ermöglichen so Mobilität ohne Unterstützung durch andere. Falls die Steuerung durch verminderte Muskelkraft Probleme bereitet, kann der Steuerknüppel anders platziert und an die Bedürfnisse der PatientInnen angepasst werden.

BiPAP-Gerät (biphasischer positiver Atemwegsdruck)

Ein BiPAP-Gerät versorgt die Lunge während der Einatmung mit einem hohen Luftvolumen und sorgt dafür, dass der Beatmungsdruck dauerhaft aufrecht erhalten bleibt. Bei der Ausatmung senkt das Gerät den Druck, um eine normalere Atmung zu ermöglichen. Dieses Beatmungsverfahren ist auch in der Lage eine spontane Zwischenatmung der PatientInnen zuzulassen, ohne dabei die eingestellte Beatmungsfrequenz zu unterbrechen.

Liegeschale

Eine Liegeschale ermöglicht es Kindern, während der Fahrt in einem Auto bequemer zu liegen. Es wird empfohlen, diese Schalen anstelle eines herkömmlichen Autositzes zu verwenden, vor allem bei Kindern mit schwereren Formen der spinalen Muskelatrophie, bei denen das Risiko für einen Atemstillstand, eine Atemlähmung oder eine zu geringe Sauerstoffsättigung bestehen könnte. Halten Sie Rücksprache mit Ihrem Betreuerteam, um herauszufinden, was für Ihr Kind hilfreich sein könnte.

Stehtrainer

Menschen, die nicht alleine stehen können, kann mit einem Stehtrainer in eine stehende Position geholfen werden. Beim Stehen werden die Knochen und Muskeln belastet, was deren Stärke verbessern kann. Es gibt stationäre Stehtrainer und andere, die bewegt werden können (dynamische Stehtrainer).

SMA und Physiotherapie

SMA und Physiotherapie: Selbstständigkeit als Ziel

Warum es wichtig ist, auch mit spinaler Muskelatrophie an seine individuelle körperliche Leistungsgrenze zu gehen, erklärt Physiotherapeutin Agnes Wilhelm, MSc (freiberuflich tätige Physiotherapeutin in Wien und Lehrende an der IMC FH Krems, Koordinatorin des fachlichen Netzwerks Neurologie von Physio Austria) im Interview.

Welche Hilfestellungen und Unterstützungen können Sie Menschen mit spinaler Muskelatrophie, kurz SMA, für ihren Alltag anbieten?

Aufgrund der SMA wird die Muskulatur von Betroffenen immer schwächer. Das hat auch Einschränkungen im Alltag zur Folge. Als selbstständige Physiotherapeutin arbeite ich mit Menschen vor Ort in ihrem Zuhause. So kann ich Patientinnen und Patienten direkt im Alltag unterstützen. Wichtig dabei ist, dass man nicht nur die Betroffenen selbst mit einbindet, sondern auch Eltern oder Angehörige. Wir als Physiotherapeutinnen und -therapeuten können so miteinander und im Austausch individuelle Ziele vereinbaren, damit die Menschen selbstständiger werden. Schließlich ist die größtmögliche Selbstständigkeit für Patienten auch das Ziel der Physiotherapie.

Welche Unterschiede gibt es dabei zwischen jugendlichen und adulten Formen der SMA?

Jeder Mensch hat unterschiedliche Ziele und Vorstellungen. Werden bei jugendlichen Formen der SMA motorische Meilensteine vielleicht gar nicht erlernt, ist der Fokus bei adulten Formen ein ganz anderer. Die von dieser Form Betroffenen leben oft bereits zehn oder vielleicht 30 Jahre lang mit der Diagnose SMA, wissen mit ihrer Erkrankung gut umzugehen und haben oftmals schon Kompensationsstrategien entwickelt. Als Physiotherapeutin bespreche ich gemeinsam mit Patienten zum Beispiel, ob es noch effektivere Strategien gibt, welche Trainings wichtig sind und wo und ab wann es vielleicht sinnvoll ist, Hilfsmittel zu verwenden.

Wie kann es gelingen, nach der Diagnose wieder ein Stückchen Normalität im Alltag herzustellen?

Gerade betroffene Erwachsene leben häufig bereits einige Zeit mit Symptomen. Wenn dann endlich eine Diagnose gestellt wird, ist die Zeit der Ungewissheit vorbei und man kann lernen, mit der Erkrankung umzugehen. Im Rahmen der Physiotherapie ist es wesentlich, Aktivitäten zu finden, die Spaß machen und in den Alltag integriert werden können. Mit Kindern können viele Übungen spielerisch durchgeführt werden. Es gibt hier auch über Spielkonsolen wunderbare Möglichkeiten für verschiedene Bewegungsfunktionen. Außerdem ist es ganz wichtig, andere Menschen mit gleichen Erfahrungen zu finden und sich mit ihnen auszutauschen. Selbsthilfegruppen sind eine ganz tolle Sache!

Welche Möglichkeiten gibt es für erwachsene Menschen mit SMA, wenn es darum geht, sie in ihrer Selbstständigkeit im Alltag zu unterstützen?

In Österreich gibt es die Möglichkeit einer persönlichen Assistenz. Das ist eine Unterstützung für den Arbeitsplatz, für Ausbildungen, aber auch für die Freizeit. Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen sind dabei Auftraggeber und bestimmen selbst, wo sie wie viel Unterstützung benötigen. So können Menschen beispielsweise länger im Berufsleben aktiv sein, auch wenn die körperlichen Einschränkungen zunehmen. Aus physiotherapeutischer Sicht ist es essenziell, dass man seine eigenen Grenzen kennenlernt. Einerseits sollten sich Menschen mit SMA zwar körperlich nicht überfordern, um erhöhte Ermüdungserscheinungen zu vermeiden. Andererseits ist es aber auch wichtig, an die eigene Leistungsgrenze zu gehen, um sich nicht zu unterfordern. Damit körperliche Funktionen und Aktivitäten möglichst lange erhalten bleiben, braucht es eine bestimmte Reizschwelle. Wenn man diese nicht erreicht, entsteht auch kein Trainingseffekt. Das, was gerade noch möglich ist, sollte man also auch tun – auch wenn das vielleicht gar nicht mehr so leicht ist.

Spinale Muskelatrophie: Man kann immer etwas tun

Spinale Muskelatrophie: Man kann immer etwas tun

Ein Experteninterview mit Prim. Univ.-Prof. Dr. Günther Bernert, Präsident der Österreichischen Muskelforschung, über den Umgang mit SMA – von der Diagnose bis in den Alltag.

Wie reagieren Eltern beziehungsweise Angehörige von betroffenen Kindern auf die Diagnose spinale Muskelatrophie, kurz SMA?

Grundsätzlich ist die Diagnose einer chronischen Erkrankung, insbesondere wenn sie fortschreitend ist, immer ein Schockerlebnis. Vieles hängt davon ab, welche Form der Erkrankung vorliegt. Im Falle der spinalen Muskelatrophie hat sich das Panorama geändert, weil es seit 2017 eine erste und seit 2020 eine zweite zugelassene Therapie gibt. Nach wie vor unverändert ist allerdings, dass sich Eltern von dem Traum von einer gesunden Familie mit einem gesunden Kind verabschieden müssen. Das ist ein Prozess, der individuell sehr verschieden verläuft – je nachdem wo die Eltern beruflich und in ihrem Freizeitverhalten zu Hause sind.

Wie kommuniziert man diesen sicherlich nicht einfachen Prozess als Arzt oder Ärztin?

Die Elterngespräche sind ein ganz entscheidender Punkt, damit ein gutes Vertrauensverhältnis entstehen kann. Aus meiner Sicht ist es wichtig, eine Balance zu finden aus zum Ausdruck gebrachtem Mitfühlen und professioneller Distanz. Das klingt jetzt vielleicht leicht, ist es aber nicht. Wenn man in diesem Gebiet arbeitet, ist es wichtig, die Fähigkeit zu besitzen, über diese Diagnosen und die sich daraus ergebenden Perspektiven sprechen zu können.

Wenn Sie sich jetzt in die Elternperspektive versetzen: Wie geht man am besten damit um?

Menschen sind in ihrer Fähigkeit, mit herausfordernden Situationen umzugehen, sehr unterschiedlich. Das erleben wir immer wieder, wenn Eltern mit der Diagnose konfrontiert werden. Manche können sich schnell auf vorhandene Therapiechancen und andere Handlungsoptionen einstellen, andere brauchen länger, um die neue Situation zu verarbeiten. Emotionen wie Trauer, Enttäuschung, aber auch Kränkung und Wut können ins Spiel kommen. Das professionelle Team, das mit der Familie zusammenarbeitet, muss auf diese unterschiedlichen Typologien und Stile der Verarbeitung adäquat reagieren können und wissen, dass es in dieser Situation wichtig ist, der Familie auch dafür Zeit zu geben. Es ist uns wichtig, den Familien zu vermitteln, dass sie nicht allein durch diesen Prozess gehen müssen. Für das gesamte Familiensystem – die Eltern, Großeltern aber auch Geschwisterkinder – kann es hilfreich sein, psychologisch Hilfe in Anspruch zu  nehmen. Wir bieten diese niederschwellig hier an der Klinik an und beobachten, dass die Familien vermehrt auf dieses Angebot zurückkommen.

Was bedeutet SMA für den Alltag von Betroffenen und deren Angehörigen?

Vieles hängt davon ab, wie stark das Kind neuromuskulär gehandicapt ist. Es macht einen Unterschied, ob sich das Kind mit einem Hilfsmittel selbst fortbewegen kann oder nicht. Aber es ist in jedem Fall wichtig, dass der Alltag erfüllt werden kann. Eine wichtige Grundregel dabei ist, dass man sich mit den Dingen zu einer Zeit beschäftigt, in der sie noch nicht notwendig sind. Diese antizipatorische Herangehensweise ist wichtig, um in Ruhe für die unterschiedlichsten Bereiche des Alltags Möglichkeiten und Alternativen besprechen zu können – angefangen bei der Suche nach geeigneten Kindergartenplätzen über die Themen Infektionen und Impfungen bis hin zu prophylaktischen „Hausübungen“ und Trainings zur Verbesserung des Lungenvolumens oder des Abhustens.

Welche positiven Impulse können Sie Interessierten oder Betroffenen abschließend mitgeben?

Bei jeder Erkrankung, auch bei nicht heilbaren Erkrankungen, kann man etwas tun. Im Falle der SMA sind wir der Fantasie einer Heilung mit den verfügbaren Therapien ja bereits ein Stück näher gekommen, da es für alle Patienten Therapieoptionen gibt. Den Arzt, der mit einem bekümmerten Gesicht sagt, er könne leider nichts mehr tun, sollte es gar nicht geben. Denn man kann immer etwas tun – und sei es nur, den Biorhythmus, die Schlaf- oder Lagequalität zu optimieren. Schon eine Stabilisierung darf hier als Erfolg gewertet werden. Außerdem können wir Eltern die Hoffnung mitgeben, dass sich die Medizin laufend weiterentwickelt.